Ohne Beteiligung der Zivilgesellschaft hat der Bundestag am 20. Oktober die Änderung des § 130 Strafgesetzbuch beschlossen. Dieser Paragraph regelt den Tatbestand der Volksverhetzung.
Im Dezember 2021 hatte die EU-Kommission gerügt, dass Deutschland den EU-Rahmenbeschluss 2008/913/JI zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit noch nicht hinreichend umgesetzt hat.
Als – späte – Reaktion darauf hat nun der Bundestag in aller Eile beschlossen, dass künftig nicht nur die Leugnung des Holocaust strafbar sein soll, sondern auch das Billigen und Leugnen von Kriegsverbrechen und Völkermord, wenn die Art der Aussage geeignet sei, zu Hass und Gewalt aufzurufen.
Obwohl die Änderung des § 130 sicher in bester Absicht beschlossen wurde, ist sie schlecht umgesetzt. Denn in der Folge müssten deutsche Gerichte bei Verfahren im Einzelfall darüber befinden, welche Taten als Kriegsverbrechen oder Völkermord gelten müssen (und deshalb nicht geleugnet werden dürfen), und welche nicht. Dabei hätte der Gesetzgeber die Möglichkeit gehabt, nur solche Kriegs- und Gewalthandlungen unter Strafe zu stellen, die von einem zuständigen internationalen Gericht, zum Beispiel dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, bereits endgültig als Kriegsverbrechen bzw. Völkermord klassifiziert worden sind.
Noch problematischer ist für Amnesty International die Art, wie die Änderung des § 130 StGB zustande kam: Der Beschluss des Bundestages erfolgte im Zuge der Änderung des Bundeszentralregistergesetzes als sogenanntes „Omnibusverfahren“, also ohne inhaltlichen Bezug zum eigentlichen Verfahren an dieses angehängt. Am Tag zuvor, am 19.10.2022, hatte der Rechtsausschuss des Bundestages beschlossen, den Gesetzesentwurf der Bundesregierung um einen diesbezüglichen, ebenfalls von den Koalitionsfraktionen getragenen, Änderungsantrag zu ergänzen. Am nächsten Abend wurde der Entwurf dann von der Ampel ohne längere Beratungen verabschiedet.
Dies bedeutet, dass ein gravierender Eingriff in das Äußerungsrecht nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit ohne gesellschaftliche Diskussion und ohne Beteiligung zivilgesellschaftlicher Organisationen umgesetzt werden soll. Daher lehnen wir dieses Verfahren aus prinzipiellen Gründen ab. Einschränkungen der Meinungsfreiheit müssen stets breit diskutiert werden.
Es ist noch nicht zu spät, noch kann das Gesetz geändert werden. Dazu muss der Bundesrat am 25.11.2022 den gemeinsamen Vermittlungsausschuss aus Bundesrat und Bundestag anrufen. Dann kann eine Neuverhandlung erfolgen, die die nötige Zeit böte, die Zivilgesellschaft einzubeziehen.
Die Amnesty International Themengruppe Meinungsfreiheit hat deshalb alle Bunderatsmitglieder angeschrieben und aufgefordert, sich dafür einzusetzen, dass ihr Bundesland bei der Abstimmung am 25.11. dafür stimmt, den Vermittlungsausschuss anzurufen.
Hier das Anschreiben an die Mitglieder des Bundesrates im Wortlaut >>
Pressespiegel (Auswahl)
- Tagesspiegel: Zitierter Jurist sagt, Kritik sei vor allem auf zu Unrecht zum Ukrainekrieg gezogene Parallelen zurückzuführen
- Welt: Sehr kritischer Kommentar („Revolution im Strafrecht“, „Gefahr für die kritische Diskussion“), allerdings hinter einer Bezahlschranke
- Netzpolitik: Äußert sich zu Auswirkungen auf Online-Plattformen wie Facebook, Instagram, Twitter & TikTok, die nach dem NetzDG Inhalte sperren oder löschen müssen, die offensichtlich gegen diesen Paragrafen verstoßen
- Telepolis: Kritisch („Nacht-und-Nebel-Entscheidung“)
- NZZ: Kritisch. Interview mit Juraprofessor Armin Engler („Gesetz ist nicht gut gemacht“)
Juristische Beiträge
- Elisa Hoven: Wie der Bundestag ohne Not das Strafrecht politisiert. Libra Rechtsbriefung
- Paula Rhein-Fischer: Regieren der Erinnerung durch Recht. Verfassungsblog
- Michael Kubiciel, Welcher Skandal, Verfassungsblog
Alle Links zuletzt abgerufen am 20.11.2022