Frida Isberg: Die Markierung. Roman, Hoffmann und Campe, 2022.

Rezension von Maren Koop

Reykjavik, in relativ naher Zukunft: Beim Eintauchen in das Leben verschiedener Einwohner(innen) der isländischen Hauptstadt erkennt man schnell, dass das politische Ziel einer gesunden, gewaltfreien und solidarischen Gesellschaft dort bereits auf unterschiedlichen Ebenen mit aufwändigen Mitteln verfolgt wird; hierzu gehören die KI-Betreuerin „Zoé“ auf den Uhren der Bürger, ein umfangreiches psychologisches Behandlungsangebot und auch eine starke Polizeipräsenz. Gleichfalls vielfach präsent sind allerdings persönliche Krisen, zwischenmenschliche Konflikte und Kriminalität.

Großen Fortschritt soll diesbezüglich ein psychologischer Empathie-Test bringen, bei dem durch Messung von Gehirnaktivitäten geprüft wird, ob eine Testperson hinreichendes Mitgefühl mit anderen zeigt und somit vertrauenswürdig ist. Wer den Test besteht, kann sich markieren lassen. Da immer mehr Bereiche des öffentlichen Lebens nur noch für markierte Personen zugänglich gemacht werden, bedeutet dies zugleich eine zunehmende Ausgrenzung der Unmarkierten. Diesem Personenkreis soll v.a. durch Therapieangebote geholfen werden.

Da allerdings in Island eine Wahl mit Volksabstimmung über die gesetzliche Verankerung einer Markierungspflicht ansteht, tritt in der Bevölkerung neben Zustimmung auch erbitterter Widerstand gegen den Test zutage.

Diese Spaltung der Gesellschaft, die auch Familien zu zerreißen droht, zeigt sich beispielhaft an den Protagonisten des Romans. Zu diesen Hauptpersonen gehören:

  • der Psychologe Ólafur (Óli), ein wichtiger Mitarbeiter des Psychologen-verbandes, der den Empathie-Test entwickelt hat, und seine Frau Sólveig, die seine Begeisterung für den Test nicht teilt
  • der junge Schulabbrecher und Testgegner Tristan, medikamentenabhängig und auf einer gefährlich schiefen Bahn – nicht zuletzt infolge seines verzweifelten Bestrebens, sich eine kleine Wohnung zu kaufen, um im Falle einer Markierungspflicht „safe“ zu sein
  • Tristans Mutter Alexandria, die den Test im 2. Versuch bestanden hat und nun in einem markierten Viertel wohnt, wo sie versucht, ihre drei schwierigen Kinder zu unterstützen
  • die attraktive Lehrerin Vetur, die in demselben Viertel wohnt und infolge einer traumatischen Beziehung unter einer posttraumatischen Belastungsstörung mit übersteigertem Sicherheitsbedürfnis leidet und die sich um einen normalen Umgang mit anderen bemühen muss
  • und die früher erfolgreiche Geschäftsfrau Eyja, die an ihren Testergebnissen, aber auch an ihrer Neigung zu kleinen Intrigen zu scheitern droht.

Diese und einige weitere Personen gehen ganz verschiedene Wege, die sich aber wiederholt auf interessante Weise kreuzen …

Ein kleines Rätsel, das die Rezensentin selbst nicht wirklich lösen konnte, sei an die Leser(innen) weitergegeben: Welche Bedeutung hat die zwischen manche Buchkapitel eingestreute Auseinandersetzung der beiden Frauen Laíla und Tea, die offenbar durch eine Art von Hassliebe verbunden sind und im Roman nur schriftlich miteinander diskutieren, für die Geschichte?

Welche auch immer: Es handelt sich hier um einen Science-Fiction-Roman der Extraklasse, der in kühner und origineller Form die Rolle des Staates im Umgang mit Gut und Böse sowie Sicherheitsinteressen und Freiheitsrechten hinterfragt und der die Leser(innen) zum Nachdenken über die geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze zur Meinungsfreiheit in der eigenen Gesellschaft anregt.

In diesem Zusammenhang sei abschließend ein weiterer Aspekt angesprochen: Im Drama „Don Karlos“ von Friedrich Schiller war der Begriff „Gedankenfreiheit“ im Appell des Marquis von Posa an seinen König („Geben Sie Gedankenfreiheit“) nach literaturkritischer Interpretation noch als klangvolleres Synonym für „Redefreiheit“ zu verstehen. In Anbetracht des technischen Fortschritts könnte die Gedanken- und Gefühlsfreiheit zu einem eigenständigen Menschenrecht werden …

Fazit: ein absolut lesenswertes Buch, das zu Recht mit isländischen Literaturpreisen ausgezeichnet wurde!

26. Dezember 2024