Carolin Emcke: Gegen den Hass, 4. Auflage, Fischer Verlage 2018

Rezension von Manuela Schotte:

„Gegen den Hass“ – Ein sehr plakativer, aber durchaus passender Titel für den bereits 2016 erschienenen und damals viel diskutierten Essay Caroline Emckes: Die für ihr entschlossenes Eintreten in Fragen der Meinungsfreiheit bekannte Publizistin beklagt in diesem Band den in der Gesellschaft zunehmenden „Hass“ nicht nur, sondern untersucht ihm zugrunde liegenden Mechanismen und zeigt Möglichkeiten auf, ihnen zu begegnen.

Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist die sorgenvolle Beobachtung, dass in einem zuvor unvorstellbaren Ausmaß „offen und hemmungslos gehasst“ (S. 14) werde. Folge sei, dass die Betroffenen verstummten, was wiederum das Anwachsen der Aggression fördere. Hass brauche nämlich, so die eingängige zentrale These der Verfasserin, absolute Gewissheit und erlaube daher weder Differenzierungen noch Individualität. Deshalb liege es in der Verantwortung der gesamten Gesellschaft, den Raum für Diskurse neu zu öffnen, damit differenzierte Betrachtungsweisen entstehen, durch die allein dieser Entwicklung begegnet werden könne.

Diese grundlegenden Annahmen führt die Autoren anschließend in drei Schritten aus.Das erste Kapitel, „Sichtbar – Unsichtbar“, widmet sich den Fragen danach, warum die von Hass Betroffenen gar nicht wahrgenommen werden und was dies für sie bedeutet. Zur Beantwortung greift Emcke auf gleichsam psychologische Überlegungen zurück, wonach Emotionen wie Liebe, Hoffnung und Sorge mit einer eingeschränkten, Unpassendes ausblendenden Wahrnehmung einhergehen können. Demgegenüber müssten die eigentlichen Beweggründe z.B. der „besorgten Bürger“ analysiert und kritisiert werden. Entsprechend untersucht Emcke im Folgenden Mechanismen des Unsichtbarmachens, und zwar einmal in Hinblick auf gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und einmal mit Blick auf institutionellen Rassismus. Zuerst zeigt sie am Beispiel der massiven Beschimpfungen von Geflüchteten im sächsischen Clausnitz, wie eine Umkehrung der tatsächlichen Machtverhältnisse stattfindet, welche die Ankommenden kollektiv zu Anderen und damit als Individuen unkenntlich mache, wohingegen die lautstarken Angreifer für sich eine vermeintliche Notwehrsituation konstruierten. Im Detail sucht die Autorin die Verhaltensweisen der Aggressoren, der Zuschauenden und auch der Polizisten zu ergründen, die alle auf ihre Weise zur Eskalation der Situation beitrügen. Dem institutionellen Hass geht die Verfasserin danach am bekannten Beispiel des Todes von Eric Garner nach, der in Tompkinsville (Staten Island) infolge massiver Polizeigewalt an Herzversagen gestorben ist. Dieser Fall sei ein Beispiel dafür, dass gerade die schwarzen Opfer weißer Polizeigewalt, auch wenn von ihnen keine Gefahr ausgeht, als Bedrohung angesehen werden, wohingegen die Polizisten selbst keine Strafe zu fürchten haben und folglich emotional unbeteiligt agieren. Hier sei es die lange Historie weißer Polizeigewalt gegen Afroamerikaner, welche die Opfer gleichsam unsichtbar mache und diese zum Verstummen bringe.

Im zweiten Schritt fragt Emcke unter der Überschrift „Homogen – Natürlich – Rein“ nach den Codes, die der Ausgrenzung dienen und zur weltanschaulichen Radikalisierung sowie Ausbildung antiliberaler Denkmuster beitragen. Drei Strategien, bei denen sich neue Kriterien mit traditionell überlieferten mischten, geht sie im Einzelnen nach: Manchmal bedienten sich die Ausgrenzenden Vorstellungen von einer Homogenität des Volks, ohne jedoch die dem Begriff inhärente Ambivalenz zu beachten. Dieser diene nämlich nicht nur der Abgrenzung einer ethnischen Gruppe, sondern trage – i.S. von „Volkssouveränität“ auch emanzipatorische und inklusive Züge. Kriterien wie „Ursprünglichkeit“ oder „Natürlichkeit“ würden hingegen insbesondere bei Themen wie Geschlecht, Sexualität und Familie eingesetzt, damit die Gegenwart mit Blick auf eine vermeintliche Vergangenheit abwertet werden könne. Die Strategie, eigene Reinheit zu behaupten, werde z.B. vom salafistischen Djihadismus eingesetzt, um im Rahmen eines strikt dualistischen Weltbildes skrupellose Gewalt und Brutalität mit Sinn aufzuladen. Ihre Attraktivität gewinne diese Ideologie, indem sie eine „inklusive Exklusivität“ (S. 175) schaffe, d.h. einerseits ein die Nationalstaaten übergreifendes Wir verspreche und andererseits einen Zugewinn an Status. Verlockend sei die „Simulation einer Gemeinschaft, in der angeblich alle willkommen sind, die aber so antiindividualistisch und autoritär geordnet ist, dass jeder und jede Einzelne letztlich seiner und ihrer Singularität beraubt wird.“ (S. 176). Demgegenüber erfordere eine offene, gerechtere Gesellschaft, Ambivalenz aushalten und Selbstkritik üben zu können. Dies habe letztlich positive Aspekte für jeden: „Niemand verliert etwas, niemandem wird etwas genommen, niemand muss sich verändern […], es erweitert den Raum, in dem alle miteinander als Freie und Gleiche leben können.“ (S. 163f.).

Das Schlusskapitel steht antithetisch zu den vorangehenden unter dem Motto „Lob des Unreinen“ und ruft – anknüpfend an die Ausgangsthesen – dazu auf, in der Abhängigkeit des „Hasses“ von eindeutigen Zuschreibungen seine größte Schwäche zu erkennen, um von dort aus die liberale, offene Gesellschaft zu verteidigen. Wichtig sei es, die grundlegenden Bedingungen und Strukturen von Hass, mangelnder Wahrnehmung und Ausgrenzung aufzudecken. Dieser sei – spätestens hier wird der Einfluss Judith Butlers auf die Autorin klar ersichtlich – mit einer Kultur zu begegnen, die sich konträr durch Pluralität, Zweifel, Ironie sowie Selbstkritik auszeichne und in immer neuen Prozessen des Aushandelns und wechselseitigen Lernens zum Ausdruck komme. Es müsse deutlich werden, dass „die gelebte und respektierte Vielfalt der Anderen […] nicht nur deren Individualität [schützt], sondern auch meine eigene.“ (S. 195). Denn es sei nicht allein Aufgabe der Opfer, sich gegen strukturelles Unrecht zur Wehr zu setzen; vielmehr seien alle gesellschaftlichen Akteure einzubinden. Es müsse eine „Praxis des Resignifizierens“ (S. 213) geübt werden, die festgefahrene Wahrnehmungsmechanismen und Zuschreiben durchkreuze. Neben rationalen Argumentationsmustern seien dabei auch die menschlichen Affekte und die Phantasie anzusprechen, um – eine etwas poetisch anmutende Formulierung – „Geschichten vom Glück“ (S. 216) zu entwerfen.

Mit dieser positiven Schlusswendung formuliert Emcke einen nachdrücklichen, nach fast zehn Jahren vielleicht sogar relevanter wirkenden Appell und gibt ansatzweise Impulse, wie Pluralität auf andere als rein argumentative Weise in die Öffentlichkeit getragen werden kann.

Entsprechend zeichnet sich ihr Beitrag selbst durch eine – manchmal recht assoziativ wirkende – Mischung aus philosophischen Anspielungen, literarisch-anekdotischen Veranschaulichungen und aktuellen Gesellschaftsanalysen aus. Am Beginn jedes Kapitels finden sich ein Zitat und – dies gehört zu den eindringlichsten Momenten der Lektüre – eine literarische Szene oder anekdotische Wiedergabe realer Ereignisse. Außerdem greift die Argumentation auf Begriffsreflexionen etwa über „Sorge“, „Volk“, „Pluralität“ und „Wahrhaftigkeit“ (nicht aber „Hass“) zurück. Gar nicht abgebildet werden kann die – mitunter verwirrende – Fülle von Ausführungen zu Anschlussthemen, wie den Diskussionen um ein Kopftuchverbot, dem Umgang mit Transpersonen oder persönlichen Erfahrungen der Autorin mit der Ausgrenzung Homosexueller. Eine gewisse Eklektik und auf schnellen Distinktionsgewinn zielende Darstellungsweise, wie sie damalige Rezensenten kritisiert haben, ist also nicht zu bestreiten. Doch ist zu bedenken, dass sich darin der diskursive Ansatz spiegelt, den die im Erscheinungsjahr mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnete Publizistin propagiert. Obgleich viele der von ihr angeführten Einzelbeobachtungen und Gedanken also durchaus bekannt sind, verleiht die Verknüpfung der Ausgangsthese mit den durchgängig formulierten Forderungen nach mehr Ambivalenz und Pluralität dem Band übergreifende Geschlossenheit.

Kritisch zu bedenken ist allerdings in der Tat, wer der Adressat dieses Textes sein soll, wenn er nicht nur – wie Adam Soboczynski in der ZEIT (44/2016) formuliert -„die volkspädagogisch wichtige Funktion einer bürgerlichen Selbstvergewisserung über grundlegende ethische Standards“ bieten soll. Für diejenigen jedenfalls, die sich für Menschenrechte und Meinungsfreiheit interessieren, bietet Emcke allemal einen bedenkenswerten Debattenbeitrag und eine empfehlenswerte Lektüre.

26. Januar 2025